Der Stücklmacher
Die Art zu komponieren
128 „Selberg’strickte“ konnten bis heute als Matheis-Stücke identifiziert werden. Da er als waschechter Volksmusikant natürlich nicht Buch geführt hat, ist die Entstehungszeit vieler seiner Stücke nur schwer zu erschließen. Mehr als ein Fünftel von ihnen kann zeitlich gar nicht eingeordnet werden, je ein weiteres Fünftel ist nachweislich in den 1980er- und 1990er-Jahren entstanden oder eingespielt worden und rund 35 Stücke sind uns aus der fruchtbaren Zeit von 2001 bis 2006 bekannt. Da Hans nur sehr widerwillig ins Studio zu bringen war, existieren nur von etwa der Hälfte gute Aufnahmen. Manches dürfte auch, da nicht dokumentiert, für immer verloren sein.
Wie Hans Matheis komponiert hat, müssen wir aus den vielen nachgelassenen Kassetten, auf denen er seine Einfälle festgehalten hat, und aus den Berichten seiner Ehefrau Irma Matheis erschließen – und aus seiner Musik. Die frühesten Aufnahmen stammen bereits aus dem Anfang der achtziger Jahre. Weder das Aufnahmegerät noch die Kassetten waren von hoher Qualität. Und auch der Zahn der Zeit hat an den Bändern deutliche Spuren hinterlassen. Einzelne Stücke werden von Hans mit Namen und Tonart angesagt und in einem Sitz aufgenommen. Das Datum der Aufnahme fehlt leider immer. Die Kassettenhüllen sind zumeist äußerst dürftig beschriftet, oft steht nur „Gestricktes vom Hans“ oder gar nichts darauf. Wie viele eigene Stücke er tatsächlich auf den Bändern hinterlassen hat, ist bei dem Durcheinander von Radio-, Veranstaltungs- und Proben-Mitschnitten und eigenen Einspielungen noch völlig unklar.
Wera Matheis schreibt in Der Hanslboarische und andere Stückl, S. 222 ff.:
„Den Schilderungen meiner Mutter verdanke ich ein ungefähres Bild davon, wie mein Vater beim Komponieren vorgegangen ist: Bevor aus einer manchmal nur vagen Andeutung ein Musikstück entstehen konnte, waren Vorarbeiten notwendig. Sie bestanden aus dem Aufspielen einzelner Fragmente, längerer und kürzerer zusammenhängender Abschnitte oder sogar schon im Kopf fertig komponierter Teile. Dann ging’s ans ,Ausputzen‘ (Feilen) der ‚Rohfassung‘, wie es mein Vater nannte, und ans ‚Ausschmücken‘: Melodik und Harmonik, Rhythmus und Bassfiguren mussten ein rundes Ganzes ergeben. Die einzelnen Teile eines Stückes, meistens drei an der Zahl, mussten nicht nur in sich, sondern auch in ihrer Gesamtheit stimmig sein. Da Hans alle musikalischen Stilmittel wie Auftakt, Punktierung, Triole, Synkope, Sequenzierung, Verzierungen, Wechselbass usw. aus dem Gefühl heraus beherrschte und im Sinne der volksmusikalischen Regeln einzusetzen wusste, bedurfte es ‚nur‘ noch seines sicheren Gespürs, aus dem Ideenhaufen ein fertiges Stück auszuarbeiten. Es gab Phasen rastloser Produktivität, ein Stück nach dem anderen entstand. Dann tat sich monatelang gar nichts, und Hans schien sich in dieser Zeit wieder mehr auf das Spielen zu konzentrieren.“
Zum Entstehen des Wera-Walzers (2002) berichtet Wera Matheis die Episode: „Im Zuge meiner Recherchen bin ich auf einer schon sehr alten Kassette auf das Stück Boarischer für d’ Wera Maria, von Hans angesagt, gestoßen. Ich hatte noch nie davon gehört und war einigermaßen überrascht. Mein offizielles und mir bestens vertrautes Stück (,Papa, spej ma mei Stückl‘) aber ist der vorliegende Walzer, in nicht unwesentlicher Zusammenarbeit mit meiner Mutter entstanden. Musste mein Vater doch nach der ersten Vorstellung bei ihr (,Basst’s a so?‘) noch mal ins Zimmer zurück mit der Anweisung: ,Moch no a boar Triller eine.‘ Und so habe ich einen virtuosen, vor Lebensfreude und Elan sprühenden und mit Pralltrillern gespickten Walzer bekommen.“
Irma Matheis hat fast hautnah erlebt, wie es ist, wenn einen die „Muse“ streift: „Wenn er vom Spaziergang mit seinem Hund etwas eilig zurückkam, dann wusste ich, dass er in seinem Kopf wieder eine neue Melodie hatte. Schnell hat er die Hundeleine und seine Kappe aufgehängt und ist in seinem Zimmer verschwunden. ‚Während Du die Knödel einlegst, mach ich schnell a Stückl‘, sagte er oft. Es kam auch vor, dass er mich nach meiner Meinung gefragt hat, ob mir diese oder jene Wendung besser gefiele. Ja, ich hab dann irgendwas gesagt, denn er wusste sowieso am besten, wie es am Schönsten war. Wenn er ganz für sich war, beim Spazierengehen oder wenn er nicht schlafen konnte, dann hat es in seinem Kopf immer gesungen und gespielt. Die Melodien sind ihm nur so zugeflogen.“ (Der Hanslboarische und andere Stückl, S. 40f.)
Struktur und Charakter
Hans Matheis ist beim Komponieren seinen Wurzeln treu geblieben: Form und Inhalt schöpfen aus der von Jugend an verinnerlichten volksmusikalischen Tradition. Die stets dreiteiligen Stücke (den dritten Teil nennt man Trio) in den drei Hauptstufen (I., IV., V. Stufe) der Grundtonart füllen sich mit Elementen mal virtuoser, mal ausdrucksstarker zwei- oder dreistimmiger Dreiklangsmelodik, markant rhythmisierten Tonleiterfiguren oder der heimeligen Dreierformel. Schnelle Polkas, schmissige Märsche, besinnliche Walzer und geruhsame Boarische: Hans Matheis hat Stücke mit Bodenhaftung geschaffen, mit Liebe zur kleinen Form, Stücke, warmherzig und anrührend, die stets die für diese Musik so charakteristische „heitere Gelassenheit“ ausstrahlen.
Da Hans Matheis von der Tanzmusik kam, wo er Akkordeon und Hammondorgel spielte, waren seine Kompositionen für die Steirische Harmonika zumindest anfangs noch von den alten Klangbildern geprägt – meint Kaspar Gerg, Gitarrist der Häuslmo-Musi seit 1997. In Der Hanslboarische und andere Stückl, S. 220, hat er sich dazu seine Gedanken gemacht: „Der Hans begnügte sich nie mit einstimmigem und selten mit zweistimmigem Spiel allein. Meist schmückte er die Melodie mit Dreiklängen aus. Teilweise waren es Sept- und Nonakkorde, wie sie zum Beispiel auch in der Wiener Schrammelmusik verwendet werden, auf die er zurückgriff. Diese Art von Mehrstimmigkeit ist in der altbairischen Volksmusik nicht üblich. Deswegen klangen einige vor allem seiner ersten Stücke in einigen Abschnitten anders, als es Volksmusikanten gewohnt waren. Im Laufe der Zeit – ich kenne diese Entwicklung seit 1990 – fand der Hans auch immer mehr Gefallen an den einfachen Strukturen. Insbesondere, wenn er Stücke für die Häuslmo-Musi aufbereitete, begnügte er sich auf der Diatonischen über weite Strecken mit der Zweistimmigkeit. So war es mir möglich, zu seinen Melodien eine Gegenstimme für das Hackbrett zu setzen, die sich beim dreistimmigen Melodiespiel viel zu wenig durchsetzen hätte können … Weil die Musik des Matheis Hans immer mehr aus dem Herzen kam, waren vereinzelte übermäßige Akkorde in der Melodie (Magdalena-Walzer) oder die aufwendigere Begleitform mit Akkorden der II. und VI. Stufe (An Braml Max sei Polka) nicht mehr dominant und passten durchaus in das volksmusikalische Bewusstsein.“
Auch Wera hat diese Entwicklung beobachtet und kommentiert: „In den letzten Jahren sind die Stückl langsamer, beschaulicher und schlichter geworden. Die innere Ruhe und Ausgeglichenheit des Stücklmachers finden sich in ebenmäßig fließenden Melodien voll emotionaler Wärme wieder, eingebettet in weich gezeichnetem Rhythmus.“
(Der Hanslboarische und andere Stückl, S. 225)
Den Stücken einen Namen geben – Zueignungen an Familie und Bekannte
Volksmusikstücke haben Namen, keine Titel. Wie neue Tier- oder Pflanzenarten, wie Straßen oder neu entdeckte Sterne werden sie benannt: nach einem Dorf, einem Berg, einem Wasserl, vielleicht nach einem ganz schönen oder markanten Stückl in der Flur oder nach einem Ereignis, nach einem Handwerk oder sonst etwas, einem lustigen, heimeligen, „griabigen“ Gegenstand – wie es sich der Namengeber, in der Regel der Komponist, der „Stücklmacher“, vorstellt. Aus der Heimat, aus dem Umfeld, aus dem alltäglichen oder sonntäglichen Leben stammen sie, und viele werden auch jemandem zugeeignet und tragen dann einen richtigen Namen – heißen nach dem Reserl oder Loisl, dem Simandl oder der Kathrin. Und so hat es auch Hans Matheis gemacht.
Hans knauserte nicht mit seinen Zueignungen: An die 40 Stücke, also etwa ein Drittel seines derzeit bekannten Werkes, widmete er Menschen, die er schätzte: seinem „Hausdoktor“ z. B., dem Schätzl Alois, oder dem Sigi Arlt, einer seiner Schüler und Schwiegersohn seiner Schwester Reserl – beide auf der CD Pollinger Marsch veröffentlicht. Und auch den Pollinger Marsch selbst hatte Hans bereits 1984 dem langjährigen Bürgermeister seiner Heimatgemeinde Erwin Güll zugedacht. Die Gemeinde Fürstenstein war ja sein Leben geworden. Jahrzehnte hatte er hier verbracht, hatte hier gearbeitet und sich in Oberpolling ein Haus gebaut – ganz logisch, dass er dem Ort Stücke widmete. Auch die Wirte, bei denen er häufig auftrat, erhielten so eine musikalische Rose ins Knopfloch oder sollen wir besser sagen in den Weißbierstutz’n (auf der CD Pollinger Marsch) gesteckt, z. B. der Kerberwirt Simon Wagner in Fürstenstein, dessen Simandl-Boarischer sich auf der CD Radiputzer befindet und der sogar in Griffschrift vorliegt, oder der Streiblwirt Helmut Gruber in Passau-Rittsteig, Oan für d’ Streiblwirtsleut (auf der CD Matheis’n-Polka). Hans Matheis hat damit in seinen Widmungen nicht nur seiner Lieben und der im Rampenlicht stehenden Mitspieler gedacht. Er hat auch die anderen nicht vergessen, die ihm Gutes taten, den Arzt, gute Freunde und die Wirte – und sie mit einem Stück ein klein wenig berühmt gemacht.
Für Hans Matheis stand die Familie über allem, mit zunehmendem Alter mehr denn je. Darum hat er zahlreichen Mitgliedern seiner Familie – der engen wie der weiteren – ein Stück gewidmet und manchen auch zwei. Ein wunderbares Geschenk erhielt seine Familie am letzten gemeinsamen Weihnachtsabend 2005: An meine liebste Irma, Wera-Walzer, An Mike sei Polka, Steffi-Walzer und Micheli-Boarischer – alles Stückl von Hans und von ihm neu eingespielt und auf CD gebrannt, für die Ehefrau, die beiden Kinder und die beiden Enkel. Und auch ein eigenes Familienstück hat er komponiert oder eher „g’mocht“, wie er es wohl selbst genannt hätte: die Matheis’n-Polka – um 2000 rum muss das gewesen sein. Das Jahr 2000 war ein äußerst erfolgreiches für Hans und sein Stammensemble, die Häuslmo-Musi: Vier ihrer Stücke wurden auf die von Josef Wimmer, Volksmusikpfleger des Landkreises Passau, und Klaus Hoffmann, Geschäftsführer des Vereins für bayerische Musikkultur im ostbayerischen Raum, herausgegebenen CD Volksmusik aus dem Landkreis Passau aufgenommen. Die Häuslmo-Musi feierte ihr 20-jähriges Bestehen mit einem großen „Hoagarten“ in Windorf. Und im Studio von Ralf Willing in Salzweg spielte Hans 24 seiner Kompositionen in erstklassiger Qualität ein – ein Glück für die Nachwelt! Während der bekannte Profitrompeter zwei davon auf einer seiner CDs veröffentlichte, erschienen sie komplett nach dem Tod von Hans auf den beiden CDs Radiputzer und Pollinger Marsch. 66 Jahre hatte der Hans zu der Zeit auf dem Buckel, ohne ein Zeichen von Müdigkeit, mit reicher Erfahrung im Komponieren und auf der Höhe seines musikalischen Schaffens und mit Weras Worten: „Kraftvoll und beschwingt, jung im Herzen – oder: ‚Wos kost d’ Wejd?!‘“ Allein auf der Doppel-CD Matheis’n-Polka befinden sich 36 Stücke, die Hans seiner Familie, Mitspielern oder Freunden geschenkt – oder auch für sich selbst gemacht hat. Die Siegerstücke ihres ersten Finken-Gewinns 1984 sind darunter, der Hanslboarische und An Karl da Sei, aber auch später hat er sich noch zweimal selber „Oan aufg’spejt“ mit Iatz kimmt da Mei und An Hans da Sei. Auf den anderen CDs finden sich noch weitere von glücklichen Stückl-Eignern wie
z. B. die Walzer für die Gerg-Töchter Franziska und Magdalena. Mit zu den letzten Kompositionen von Hans gehört Oana fürn Rainer, ein unbeschwert anmutender Walzer mit stark ans Gemüt gehendem Anfang und Schluss. Er hat ihn beim Requiem für den verstorbenen Freund Rainer Langhammer im Januar 2005 zum ersten Mal vorgetragen. Rainer selbst hat das Stück nicht mehr hören können. So ist eine jahrzehntelange Freundschaft durch die liebevolle Geste eines großen Volksmusikanten zu einem tönenden Dokument geworden: immer wieder gespielt und in die Welt hinausgestrahlt – eine Erinnerung, der auch der Tod nichts anhaben kann!
Den Stücken einen Namen geben – Zueignungen an die Heimat
„I floig ned“ und eine, alle Diskussion abschneidende Handbewegung: Das Geschenk, das ihm seine beiden Kinder zum 60. Geburtstag machen wollten, einen Flug mit Freunden nach Brasilien, war voll daneben. Dabei war es nicht nur Flugangst, woher auch? Flugzeuge kannte Hans Matheis nur vom Boden aus – nein, er war einfach von Grund auf heimatverbunden. Wozu sollte er nach Brasilien fliegen? Es reichte ihm schon, wenn er dreißig Kilometer weiter in einem angrenzenden Landkreis auftreten musste. Da ließ er sich dann hinfahren und war froh, wenn er wieder aussteigen konnte – und noch froher, wenn er wieder daheim war. Auch die Heimat hat Hans alles bedeutet.
Natürlich war er früher als junger Mann viel rumgekommen, als er, zwanzigjährig, das Akkordeon auf den Rücken gespannt, mit seiner Horex zu Hochzeiten fuhr und aufspielte. Oder als er mehr als zwei Jahrzehnte lang mit verschiedenen Tanzbands in den Lokalen der näheren und weiteren Umgebung aufgetreten war. Und auch als Volksmusikant kam Hans natürlich nun im ganzen ostbayerischen Raum herum, auch mal über die nahen Grenzen ins Tschechische und Oberösterreichische. Die Häuslmo-Musi war eine der bekanntesten Gruppen des Landkreises Passau und überall gefragt.
Im Grunde aber wollte Hans gar nicht weg. Ihm reichte der Radius, den er mit seinem Hund ablaufen konnte: zwei Stunden ums Dorf herum! Hier kannte er die Stege und Wege, den Wald und die Felder, das Reuthholz und den Kronberg, die Trachtenhüttn und den Pirkinger Bach, die Steinbrüche und seinen Lieblingsplatz die Neumeier-Höhe jenseits des Kronenwalds mit einem wunderbaren Blick auf Unter- und Oberpolling. Heimat kennzeichnet das Leben von Hans Matheis. Darum nimmt es auch nicht Wunder, dass viele seiner Melodien einen Namen erhalten haben, welcher der nahen Umgebung, Flur- und Waldstücken, Ortsteilen, Straßen und Pflanzen, entlehnt ist.
Die aus dem Nachlass zusammengestellte Doppel-CD Am Fürstenstoa stellt schwerpunktmäßig solche Stücke mit Namen aus der Heimat vor. Sie sind alle hundertfach gehört von den Besuchern der Feiern des örtlichen Trachtenvereins oder des Frauenbundes, der Hoagarten und Hochzeiten, von Geburtstagen und Volksmusikveranstaltungen – wohlgemerkt: im Ohr ist die Musik, ihre Namen aber kennt man meistens nicht. Einige der „Selberg’strickten“ sind trotzdem mit ihren Namen bekannt geworden: Neben dem Häuslmo-Marsch und dem Radiputzer gehört der Pollinger Marsch zu den populärsten Erfindungen von Hans Matheis. Ein paar Stücke, die lokale Namen tragen, sind bereits auf den letzten vier CDs publiziert worden: so der erwähnte Pollinger Marsch, das titelgebende Stück der CD von 2009, dort auch die Rohrwiesen-Polka, die ihren Namen nach einer sumpfigen Wies’ in Unterpolling trägt. Auf der Doppel-CD Matheis’n-Polka findet sich der Ilzleit'n-Boarische, nach den Hängen der Ilz benannt, einer der drei Passauer Flüsse, und der Ilzleit'n-Stub’nmusi gewidmet. Einige Stücke von und mit Hans sind auch auf älteren, längst vergriffenen Tonträgern zu hören: Schlosswalzer, Ruahhügel-Walzer, Birkenstoana-Polka und Stoabeißer auf der 1984 von der Häuslmo-Musi eingespielten Musikkassette, Wiesen-Polka, Brechl-Boarischer und Haselberg-Walzer auf der 1987 vom Fürstenstoana Trio mit Irmi herausgegebenen Kassette. Von diesen Stücken liegen nun dank der historischen Bandaufnahmen auch Solo-Einspielungen vor.
In der Vorwaldgemeinde Fürstenstein im Landkreis Passau war Hans gerne zu Hause und er drückte das auch musikalisch aus. Waldreich ist die Gemeinde, „steinreich“ mit ihren Granitbrüchen, und ihr Schloss gehört mit den benachbarten ehemaligen Adelssitzen Engelburg und Saldenburg zu den drei Landmarken der Urlaubsregion „Dreiburgenland“. Hans Matheis gab das, was er der Schönheit und Ruhe dieser Landschaft an Kraft abgewann, durch musikalische Zueignungen zurück. Das für die zweite Doppel-CD namengebende Stück Am Fürstenstoa meint Ort, Berg und Schloss – man wohnt hier „am Fürstenstoa“! Mit dem Schlosswalzer hat er dem alles beherrschenden Wahrzeichen auf der Höhe und mit dem Burgstall-Boarischen auch noch der schriftlich nicht überlieferten Vorgängerin der Burg, im Tal der Kleinen Ohe bei Reutherfurth gelegen, ein eigenes Stückl gewidmet – und damit mehr als 1000 Jahre Herrschaftsgeschichte „abgedeckt“. Hans hat seiner Gemeinde mit diesen Stücken ein unvergleichliches Geschenk gemacht.
Seinem langjährigen Wohnort schenkte Hans mit dem Gruß aus Oberpolling eine mäßig schnelle Polka. Das 700-Seelen-Dorf, drittgrößte Ortschaft der Gemeinde Fürstenstein, ist in den letzten 30 bis 40 Jahren als Nest von „Ziachspielern“ bekannt geworden. Gefördert durch den Trachtenverein und versierte Spieler und Lehrer entstanden und entstehen hier immer wieder neue Gruppierungen in unterschiedlicher Besetzung. Für die Hochstraße, wo sein Haus steht, komponierte Hans einen Ländler. Und von dort aus konnte er Über d’ Beizn auf das „Reithhoiz“ (Reuthholz) hinunterschauen. Auf der Karte von 1887 ist der Name der Flur, die „Beizn“, noch verzeichnet. Solche alten Flurnamen liebte Hans, in ihnen sah er wohl noch das Althergebrachte, Ehrwürdige erhalten, die Heimat eben – und sie hatten für ihn sicher auch noch den urigen Klang, mit dem die meisten Stücklmacher gerne ihre Geschöpfe in die Welt entlassen. Schon in den frühen 1980er-Jahren hat er ein paar solcher Stückl für sich auf Band gespielt, die Fürhauptn-Polka, ’s Hehnabachl, den Walzer ’s Brunnwiesl und die Polka Am Dornacker – alles Namen aus der Pollinger Flur, die das Vorderwald-Trio zusammen mit weiteren 13 unveröffentlichten Matheis-Stücken auf der CD ’s Altwasserl verewigt hat.
Einen „Lobgesang auf die Schönheit“ des bei den Oberpollingern allseits beliebten Waldstücks „Grabeer“ hat Wera einmal den Kronberg-Walzer am Ortsrand von Oberpolling charakterisiert. Und daneben liegt die Flur „Stoareit“, die Hans zu seinem Stoafeld-Boarischen animierte. Ebenso wird der Oberpollinger Ortsteil Haselberg und der Ruahhügel nördlich von Unterpolling musikalisch besungen, alles Fluren der Heimat, zu denen Hans einen innigen Bezug hatte.
Den Stücken einen Namen geben – Zueignungen an altes Handwerk und die Gemütlichkeit
Eine dritte Zueignungsgruppe, die nur schwer in einem Begriff – am ehesten auch wieder mit Heimat – zu fassen ist, muss noch genannt werden: Die Stücke tragen alle Namen aus dem Alltagsleben, Namen von alten Gewerken, Namen von Gegenständen, die sich so in Haus und Garten befinden können, und Namen, die direkt mit der Musik und dem Feiern zu tun haben – dem Alltagsleben des Musikanten. Der Hoarhaus-Boarische und der Brechl-Boarische z. B. beziehen sich auf das Flachsbrechen und ein längst abgerissenes Flachsdörrhaus in Unterpolling. Der Zwirnspinner meint den alten Beruf des Seildrehers, der Kerbezeiner den des Korbmachers. Der Stoabeißer erinnert an eine im Steinbruch zum Einsatz gekommene Maschine, in der Granitbrocken zu Eisenbahnschotter zerstoßen wurden. Hans hat sich da wohl an seine Zeit als Steinhauer im Weigl-Steinbruch im Oberpollinger Ortsteil Hinterberg erinnert. Das Stück ist eigentlich eine schmissige Hommage an die Steinbruchgemeinde Fürstenstein, wozu auch noch das Stück So klingts bei uns prächtig passt.
Mit der Strossgrom-Polka, der Wiesen-Polka und dem Röserl-Walzer sitzt man auf der Hausbank mit Blick übers Tal; eine weich fließende Walzermelodie weitet einem das Herz, bis man mit der für die Volksmusik so typischen, lebendigen Dreierformel am Schluss die Welt umarmen möcht’. Und drinnen obwaltet das häusliche Leben, das anderen Stücken den Namen gab: Mit O’dampft is, der Dampfnudel-Polka und der Bauzerl-Polka riecht man Teig, Zimt und Zucker und sieht die Hausfrau traditionell werkeln, und mit dem Bettstadl-Boarischen, dem Zifferbladl-Walzer, Tabakreiber, Wollknäuerl und dem Grifflspitzer ist die Wohnung einmal rundherum „auskomponiert“.
„Griabige“ Ausdrücke, wenn auch mit ganz persönlichem Hintergrund, hat Hans seinen Stücken mit dem Strumpfkini-Boarischen (Schimpfwort für Lausbub) und dem Woigerer (ein Gwamperter, der „daherwoiglt“) gegeben. Der Schewerl-Boarische meint das Zittergras, die Bärndatz-Polka den Wiesen-Bärenklau.
An Stücken, die das Tanzen und das gemütliche Beisammensein zelebrieren, lassen sich Oana zum Tanzen – a Polka is’ und Oana zum Tanzen – a Boarischer is’, A Walzerl für uns alle, die Polka ausanand, Geburtstagswalzer, Sitz di her do und der Bierdümpfe-Boarische aufzählen. Und mit dem Walzerfragment Wann da Wind über d’ Schneid herkimmt setzen wir uns wieder heimatverträumt zurück auf die Hausbank.
Die Art zu komponieren
128 „Selberg’strickte“ konnten bis heute als Matheis-Stücke identifiziert werden. Da er als waschechter Volksmusikant natürlich nicht Buch geführt hat, ist die Entstehungszeit vieler seiner Stücke nur schwer zu erschließen. Mehr als ein Fünftel von ihnen kann zeitlich gar nicht eingeordnet werden, je ein weiteres Fünftel ist nachweislich in den 1980er- und 1990er-Jahren entstanden oder eingespielt worden und rund 35 Stücke sind uns aus der fruchtbaren Zeit von 2001 bis 2006 bekannt. Da Hans nur sehr widerwillig ins Studio zu bringen war, existieren nur von etwa der Hälfte gute Aufnahmen. Manches dürfte auch, da nicht dokumentiert, für immer verloren sein.
Wie Hans Matheis komponiert hat, müssen wir aus den vielen nachgelassenen Kassetten, auf denen er seine Einfälle festgehalten hat, und aus den Berichten seiner Ehefrau Irma Matheis erschließen – und aus seiner Musik. Die frühesten Aufnahmen stammen bereits aus dem Anfang der achtziger Jahre. Weder das Aufnahmegerät noch die Kassetten waren von hoher Qualität. Und auch der Zahn der Zeit hat an den Bändern deutliche Spuren hinterlassen. Einzelne Stücke werden von Hans mit Namen und Tonart angesagt und in einem Sitz aufgenommen. Das Datum der Aufnahme fehlt leider immer. Die Kassettenhüllen sind zumeist äußerst dürftig beschriftet, oft steht nur „Gestricktes vom Hans“ oder gar nichts darauf. Wie viele eigene Stücke er tatsächlich auf den Bändern hinterlassen hat, ist bei dem Durcheinander von Radio-, Veranstaltungs- und Proben-Mitschnitten und eigenen Einspielungen noch völlig unklar.
Wera Matheis schreibt in Der Hanslboarische und andere Stückl, S. 222 ff.:
„Den Schilderungen meiner Mutter verdanke ich ein ungefähres Bild davon, wie mein Vater beim Komponieren vorgegangen ist: Bevor aus einer manchmal nur vagen Andeutung ein Musikstück entstehen konnte, waren Vorarbeiten notwendig. Sie bestanden aus dem Aufspielen einzelner Fragmente, längerer und kürzerer zusammenhängender Abschnitte oder sogar schon im Kopf fertig komponierter Teile. Dann ging’s ans ,Ausputzen‘ (Feilen) der ‚Rohfassung‘, wie es mein Vater nannte, und ans ‚Ausschmücken‘: Melodik und Harmonik, Rhythmus und Bassfiguren mussten ein rundes Ganzes ergeben. Die einzelnen Teile eines Stückes, meistens drei an der Zahl, mussten nicht nur in sich, sondern auch in ihrer Gesamtheit stimmig sein. Da Hans alle musikalischen Stilmittel wie Auftakt, Punktierung, Triole, Synkope, Sequenzierung, Verzierungen, Wechselbass usw. aus dem Gefühl heraus beherrschte und im Sinne der volksmusikalischen Regeln einzusetzen wusste, bedurfte es ‚nur‘ noch seines sicheren Gespürs, aus dem Ideenhaufen ein fertiges Stück auszuarbeiten. Es gab Phasen rastloser Produktivität, ein Stück nach dem anderen entstand. Dann tat sich monatelang gar nichts, und Hans schien sich in dieser Zeit wieder mehr auf das Spielen zu konzentrieren.“
Zum Entstehen des Wera-Walzers (2002) berichtet Wera Matheis die Episode: „Im Zuge meiner Recherchen bin ich auf einer schon sehr alten Kassette auf das Stück Boarischer für d’ Wera Maria, von Hans angesagt, gestoßen. Ich hatte noch nie davon gehört und war einigermaßen überrascht. Mein offizielles und mir bestens vertrautes Stück (,Papa, spej ma mei Stückl‘) aber ist der vorliegende Walzer, in nicht unwesentlicher Zusammenarbeit mit meiner Mutter entstanden. Musste mein Vater doch nach der ersten Vorstellung bei ihr (,Basst’s a so?‘) noch mal ins Zimmer zurück mit der Anweisung: ,Moch no a boar Triller eine.‘ Und so habe ich einen virtuosen, vor Lebensfreude und Elan sprühenden und mit Pralltrillern gespickten Walzer bekommen.“
Irma Matheis hat fast hautnah erlebt, wie es ist, wenn einen die „Muse“ streift: „Wenn er vom Spaziergang mit seinem Hund etwas eilig zurückkam, dann wusste ich, dass er in seinem Kopf wieder eine neue Melodie hatte. Schnell hat er die Hundeleine und seine Kappe aufgehängt und ist in seinem Zimmer verschwunden. ‚Während Du die Knödel einlegst, mach ich schnell a Stückl‘, sagte er oft. Es kam auch vor, dass er mich nach meiner Meinung gefragt hat, ob mir diese oder jene Wendung besser gefiele. Ja, ich hab dann irgendwas gesagt, denn er wusste sowieso am besten, wie es am Schönsten war. Wenn er ganz für sich war, beim Spazierengehen oder wenn er nicht schlafen konnte, dann hat es in seinem Kopf immer gesungen und gespielt. Die Melodien sind ihm nur so zugeflogen.“ (Der Hanslboarische und andere Stückl, S. 40f.)
Struktur und Charakter
Hans Matheis ist beim Komponieren seinen Wurzeln treu geblieben: Form und Inhalt schöpfen aus der von Jugend an verinnerlichten volksmusikalischen Tradition. Die stets dreiteiligen Stücke (den dritten Teil nennt man Trio) in den drei Hauptstufen (I., IV., V. Stufe) der Grundtonart füllen sich mit Elementen mal virtuoser, mal ausdrucksstarker zwei- oder dreistimmiger Dreiklangsmelodik, markant rhythmisierten Tonleiterfiguren oder der heimeligen Dreierformel. Schnelle Polkas, schmissige Märsche, besinnliche Walzer und geruhsame Boarische: Hans Matheis hat Stücke mit Bodenhaftung geschaffen, mit Liebe zur kleinen Form, Stücke, warmherzig und anrührend, die stets die für diese Musik so charakteristische „heitere Gelassenheit“ ausstrahlen.
Da Hans Matheis von der Tanzmusik kam, wo er Akkordeon und Hammondorgel spielte, waren seine Kompositionen für die Steirische Harmonika zumindest anfangs noch von den alten Klangbildern geprägt – meint Kaspar Gerg, Gitarrist der Häuslmo-Musi seit 1997. In Der Hanslboarische und andere Stückl, S. 220, hat er sich dazu seine Gedanken gemacht: „Der Hans begnügte sich nie mit einstimmigem und selten mit zweistimmigem Spiel allein. Meist schmückte er die Melodie mit Dreiklängen aus. Teilweise waren es Sept- und Nonakkorde, wie sie zum Beispiel auch in der Wiener Schrammelmusik verwendet werden, auf die er zurückgriff. Diese Art von Mehrstimmigkeit ist in der altbairischen Volksmusik nicht üblich. Deswegen klangen einige vor allem seiner ersten Stücke in einigen Abschnitten anders, als es Volksmusikanten gewohnt waren. Im Laufe der Zeit – ich kenne diese Entwicklung seit 1990 – fand der Hans auch immer mehr Gefallen an den einfachen Strukturen. Insbesondere, wenn er Stücke für die Häuslmo-Musi aufbereitete, begnügte er sich auf der Diatonischen über weite Strecken mit der Zweistimmigkeit. So war es mir möglich, zu seinen Melodien eine Gegenstimme für das Hackbrett zu setzen, die sich beim dreistimmigen Melodiespiel viel zu wenig durchsetzen hätte können … Weil die Musik des Matheis Hans immer mehr aus dem Herzen kam, waren vereinzelte übermäßige Akkorde in der Melodie (Magdalena-Walzer) oder die aufwendigere Begleitform mit Akkorden der II. und VI. Stufe (An Braml Max sei Polka) nicht mehr dominant und passten durchaus in das volksmusikalische Bewusstsein.“
Auch Wera hat diese Entwicklung beobachtet und kommentiert: „In den letzten Jahren sind die Stückl langsamer, beschaulicher und schlichter geworden. Die innere Ruhe und Ausgeglichenheit des Stücklmachers finden sich in ebenmäßig fließenden Melodien voll emotionaler Wärme wieder, eingebettet in weich gezeichnetem Rhythmus.“
(Der Hanslboarische und andere Stückl, S. 225)
Den Stücken einen Namen geben – Zueignungen an Familie und Bekannte
Volksmusikstücke haben Namen, keine Titel. Wie neue Tier- oder Pflanzenarten, wie Straßen oder neu entdeckte Sterne werden sie benannt: nach einem Dorf, einem Berg, einem Wasserl, vielleicht nach einem ganz schönen oder markanten Stückl in der Flur oder nach einem Ereignis, nach einem Handwerk oder sonst etwas, einem lustigen, heimeligen, „griabigen“ Gegenstand – wie es sich der Namengeber, in der Regel der Komponist, der „Stücklmacher“, vorstellt. Aus der Heimat, aus dem Umfeld, aus dem alltäglichen oder sonntäglichen Leben stammen sie, und viele werden auch jemandem zugeeignet und tragen dann einen richtigen Namen – heißen nach dem Reserl oder Loisl, dem Simandl oder der Kathrin. Und so hat es auch Hans Matheis gemacht.
Hans knauserte nicht mit seinen Zueignungen: An die 40 Stücke, also etwa ein Drittel seines derzeit bekannten Werkes, widmete er Menschen, die er schätzte: seinem „Hausdoktor“ z. B., dem Schätzl Alois, oder dem Sigi Arlt, einer seiner Schüler und Schwiegersohn seiner Schwester Reserl – beide auf der CD Pollinger Marsch veröffentlicht. Und auch den Pollinger Marsch selbst hatte Hans bereits 1984 dem langjährigen Bürgermeister seiner Heimatgemeinde Erwin Güll zugedacht. Die Gemeinde Fürstenstein war ja sein Leben geworden. Jahrzehnte hatte er hier verbracht, hatte hier gearbeitet und sich in Oberpolling ein Haus gebaut – ganz logisch, dass er dem Ort Stücke widmete. Auch die Wirte, bei denen er häufig auftrat, erhielten so eine musikalische Rose ins Knopfloch oder sollen wir besser sagen in den Weißbierstutz’n (auf der CD Pollinger Marsch) gesteckt, z. B. der Kerberwirt Simon Wagner in Fürstenstein, dessen Simandl-Boarischer sich auf der CD Radiputzer befindet und der sogar in Griffschrift vorliegt, oder der Streiblwirt Helmut Gruber in Passau-Rittsteig, Oan für d’ Streiblwirtsleut (auf der CD Matheis’n-Polka). Hans Matheis hat damit in seinen Widmungen nicht nur seiner Lieben und der im Rampenlicht stehenden Mitspieler gedacht. Er hat auch die anderen nicht vergessen, die ihm Gutes taten, den Arzt, gute Freunde und die Wirte – und sie mit einem Stück ein klein wenig berühmt gemacht.
Für Hans Matheis stand die Familie über allem, mit zunehmendem Alter mehr denn je. Darum hat er zahlreichen Mitgliedern seiner Familie – der engen wie der weiteren – ein Stück gewidmet und manchen auch zwei. Ein wunderbares Geschenk erhielt seine Familie am letzten gemeinsamen Weihnachtsabend 2005: An meine liebste Irma, Wera-Walzer, An Mike sei Polka, Steffi-Walzer und Micheli-Boarischer – alles Stückl von Hans und von ihm neu eingespielt und auf CD gebrannt, für die Ehefrau, die beiden Kinder und die beiden Enkel. Und auch ein eigenes Familienstück hat er komponiert oder eher „g’mocht“, wie er es wohl selbst genannt hätte: die Matheis’n-Polka – um 2000 rum muss das gewesen sein. Das Jahr 2000 war ein äußerst erfolgreiches für Hans und sein Stammensemble, die Häuslmo-Musi: Vier ihrer Stücke wurden auf die von Josef Wimmer, Volksmusikpfleger des Landkreises Passau, und Klaus Hoffmann, Geschäftsführer des Vereins für bayerische Musikkultur im ostbayerischen Raum, herausgegebenen CD Volksmusik aus dem Landkreis Passau aufgenommen. Die Häuslmo-Musi feierte ihr 20-jähriges Bestehen mit einem großen „Hoagarten“ in Windorf. Und im Studio von Ralf Willing in Salzweg spielte Hans 24 seiner Kompositionen in erstklassiger Qualität ein – ein Glück für die Nachwelt! Während der bekannte Profitrompeter zwei davon auf einer seiner CDs veröffentlichte, erschienen sie komplett nach dem Tod von Hans auf den beiden CDs Radiputzer und Pollinger Marsch. 66 Jahre hatte der Hans zu der Zeit auf dem Buckel, ohne ein Zeichen von Müdigkeit, mit reicher Erfahrung im Komponieren und auf der Höhe seines musikalischen Schaffens und mit Weras Worten: „Kraftvoll und beschwingt, jung im Herzen – oder: ‚Wos kost d’ Wejd?!‘“ Allein auf der Doppel-CD Matheis’n-Polka befinden sich 36 Stücke, die Hans seiner Familie, Mitspielern oder Freunden geschenkt – oder auch für sich selbst gemacht hat. Die Siegerstücke ihres ersten Finken-Gewinns 1984 sind darunter, der Hanslboarische und An Karl da Sei, aber auch später hat er sich noch zweimal selber „Oan aufg’spejt“ mit Iatz kimmt da Mei und An Hans da Sei. Auf den anderen CDs finden sich noch weitere von glücklichen Stückl-Eignern wie
z. B. die Walzer für die Gerg-Töchter Franziska und Magdalena. Mit zu den letzten Kompositionen von Hans gehört Oana fürn Rainer, ein unbeschwert anmutender Walzer mit stark ans Gemüt gehendem Anfang und Schluss. Er hat ihn beim Requiem für den verstorbenen Freund Rainer Langhammer im Januar 2005 zum ersten Mal vorgetragen. Rainer selbst hat das Stück nicht mehr hören können. So ist eine jahrzehntelange Freundschaft durch die liebevolle Geste eines großen Volksmusikanten zu einem tönenden Dokument geworden: immer wieder gespielt und in die Welt hinausgestrahlt – eine Erinnerung, der auch der Tod nichts anhaben kann!
Den Stücken einen Namen geben – Zueignungen an die Heimat
„I floig ned“ und eine, alle Diskussion abschneidende Handbewegung: Das Geschenk, das ihm seine beiden Kinder zum 60. Geburtstag machen wollten, einen Flug mit Freunden nach Brasilien, war voll daneben. Dabei war es nicht nur Flugangst, woher auch? Flugzeuge kannte Hans Matheis nur vom Boden aus – nein, er war einfach von Grund auf heimatverbunden. Wozu sollte er nach Brasilien fliegen? Es reichte ihm schon, wenn er dreißig Kilometer weiter in einem angrenzenden Landkreis auftreten musste. Da ließ er sich dann hinfahren und war froh, wenn er wieder aussteigen konnte – und noch froher, wenn er wieder daheim war. Auch die Heimat hat Hans alles bedeutet.
Natürlich war er früher als junger Mann viel rumgekommen, als er, zwanzigjährig, das Akkordeon auf den Rücken gespannt, mit seiner Horex zu Hochzeiten fuhr und aufspielte. Oder als er mehr als zwei Jahrzehnte lang mit verschiedenen Tanzbands in den Lokalen der näheren und weiteren Umgebung aufgetreten war. Und auch als Volksmusikant kam Hans natürlich nun im ganzen ostbayerischen Raum herum, auch mal über die nahen Grenzen ins Tschechische und Oberösterreichische. Die Häuslmo-Musi war eine der bekanntesten Gruppen des Landkreises Passau und überall gefragt.
Im Grunde aber wollte Hans gar nicht weg. Ihm reichte der Radius, den er mit seinem Hund ablaufen konnte: zwei Stunden ums Dorf herum! Hier kannte er die Stege und Wege, den Wald und die Felder, das Reuthholz und den Kronberg, die Trachtenhüttn und den Pirkinger Bach, die Steinbrüche und seinen Lieblingsplatz die Neumeier-Höhe jenseits des Kronenwalds mit einem wunderbaren Blick auf Unter- und Oberpolling. Heimat kennzeichnet das Leben von Hans Matheis. Darum nimmt es auch nicht Wunder, dass viele seiner Melodien einen Namen erhalten haben, welcher der nahen Umgebung, Flur- und Waldstücken, Ortsteilen, Straßen und Pflanzen, entlehnt ist.
Die aus dem Nachlass zusammengestellte Doppel-CD Am Fürstenstoa stellt schwerpunktmäßig solche Stücke mit Namen aus der Heimat vor. Sie sind alle hundertfach gehört von den Besuchern der Feiern des örtlichen Trachtenvereins oder des Frauenbundes, der Hoagarten und Hochzeiten, von Geburtstagen und Volksmusikveranstaltungen – wohlgemerkt: im Ohr ist die Musik, ihre Namen aber kennt man meistens nicht. Einige der „Selberg’strickten“ sind trotzdem mit ihren Namen bekannt geworden: Neben dem Häuslmo-Marsch und dem Radiputzer gehört der Pollinger Marsch zu den populärsten Erfindungen von Hans Matheis. Ein paar Stücke, die lokale Namen tragen, sind bereits auf den letzten vier CDs publiziert worden: so der erwähnte Pollinger Marsch, das titelgebende Stück der CD von 2009, dort auch die Rohrwiesen-Polka, die ihren Namen nach einer sumpfigen Wies’ in Unterpolling trägt. Auf der Doppel-CD Matheis’n-Polka findet sich der Ilzleit'n-Boarische, nach den Hängen der Ilz benannt, einer der drei Passauer Flüsse, und der Ilzleit'n-Stub’nmusi gewidmet. Einige Stücke von und mit Hans sind auch auf älteren, längst vergriffenen Tonträgern zu hören: Schlosswalzer, Ruahhügel-Walzer, Birkenstoana-Polka und Stoabeißer auf der 1984 von der Häuslmo-Musi eingespielten Musikkassette, Wiesen-Polka, Brechl-Boarischer und Haselberg-Walzer auf der 1987 vom Fürstenstoana Trio mit Irmi herausgegebenen Kassette. Von diesen Stücken liegen nun dank der historischen Bandaufnahmen auch Solo-Einspielungen vor.
In der Vorwaldgemeinde Fürstenstein im Landkreis Passau war Hans gerne zu Hause und er drückte das auch musikalisch aus. Waldreich ist die Gemeinde, „steinreich“ mit ihren Granitbrüchen, und ihr Schloss gehört mit den benachbarten ehemaligen Adelssitzen Engelburg und Saldenburg zu den drei Landmarken der Urlaubsregion „Dreiburgenland“. Hans Matheis gab das, was er der Schönheit und Ruhe dieser Landschaft an Kraft abgewann, durch musikalische Zueignungen zurück. Das für die zweite Doppel-CD namengebende Stück Am Fürstenstoa meint Ort, Berg und Schloss – man wohnt hier „am Fürstenstoa“! Mit dem Schlosswalzer hat er dem alles beherrschenden Wahrzeichen auf der Höhe und mit dem Burgstall-Boarischen auch noch der schriftlich nicht überlieferten Vorgängerin der Burg, im Tal der Kleinen Ohe bei Reutherfurth gelegen, ein eigenes Stückl gewidmet – und damit mehr als 1000 Jahre Herrschaftsgeschichte „abgedeckt“. Hans hat seiner Gemeinde mit diesen Stücken ein unvergleichliches Geschenk gemacht.
Seinem langjährigen Wohnort schenkte Hans mit dem Gruß aus Oberpolling eine mäßig schnelle Polka. Das 700-Seelen-Dorf, drittgrößte Ortschaft der Gemeinde Fürstenstein, ist in den letzten 30 bis 40 Jahren als Nest von „Ziachspielern“ bekannt geworden. Gefördert durch den Trachtenverein und versierte Spieler und Lehrer entstanden und entstehen hier immer wieder neue Gruppierungen in unterschiedlicher Besetzung. Für die Hochstraße, wo sein Haus steht, komponierte Hans einen Ländler. Und von dort aus konnte er Über d’ Beizn auf das „Reithhoiz“ (Reuthholz) hinunterschauen. Auf der Karte von 1887 ist der Name der Flur, die „Beizn“, noch verzeichnet. Solche alten Flurnamen liebte Hans, in ihnen sah er wohl noch das Althergebrachte, Ehrwürdige erhalten, die Heimat eben – und sie hatten für ihn sicher auch noch den urigen Klang, mit dem die meisten Stücklmacher gerne ihre Geschöpfe in die Welt entlassen. Schon in den frühen 1980er-Jahren hat er ein paar solcher Stückl für sich auf Band gespielt, die Fürhauptn-Polka, ’s Hehnabachl, den Walzer ’s Brunnwiesl und die Polka Am Dornacker – alles Namen aus der Pollinger Flur, die das Vorderwald-Trio zusammen mit weiteren 13 unveröffentlichten Matheis-Stücken auf der CD ’s Altwasserl verewigt hat.
Einen „Lobgesang auf die Schönheit“ des bei den Oberpollingern allseits beliebten Waldstücks „Grabeer“ hat Wera einmal den Kronberg-Walzer am Ortsrand von Oberpolling charakterisiert. Und daneben liegt die Flur „Stoareit“, die Hans zu seinem Stoafeld-Boarischen animierte. Ebenso wird der Oberpollinger Ortsteil Haselberg und der Ruahhügel nördlich von Unterpolling musikalisch besungen, alles Fluren der Heimat, zu denen Hans einen innigen Bezug hatte.
Den Stücken einen Namen geben – Zueignungen an altes Handwerk und die Gemütlichkeit
Eine dritte Zueignungsgruppe, die nur schwer in einem Begriff – am ehesten auch wieder mit Heimat – zu fassen ist, muss noch genannt werden: Die Stücke tragen alle Namen aus dem Alltagsleben, Namen von alten Gewerken, Namen von Gegenständen, die sich so in Haus und Garten befinden können, und Namen, die direkt mit der Musik und dem Feiern zu tun haben – dem Alltagsleben des Musikanten. Der Hoarhaus-Boarische und der Brechl-Boarische z. B. beziehen sich auf das Flachsbrechen und ein längst abgerissenes Flachsdörrhaus in Unterpolling. Der Zwirnspinner meint den alten Beruf des Seildrehers, der Kerbezeiner den des Korbmachers. Der Stoabeißer erinnert an eine im Steinbruch zum Einsatz gekommene Maschine, in der Granitbrocken zu Eisenbahnschotter zerstoßen wurden. Hans hat sich da wohl an seine Zeit als Steinhauer im Weigl-Steinbruch im Oberpollinger Ortsteil Hinterberg erinnert. Das Stück ist eigentlich eine schmissige Hommage an die Steinbruchgemeinde Fürstenstein, wozu auch noch das Stück So klingts bei uns prächtig passt.
Mit der Strossgrom-Polka, der Wiesen-Polka und dem Röserl-Walzer sitzt man auf der Hausbank mit Blick übers Tal; eine weich fließende Walzermelodie weitet einem das Herz, bis man mit der für die Volksmusik so typischen, lebendigen Dreierformel am Schluss die Welt umarmen möcht’. Und drinnen obwaltet das häusliche Leben, das anderen Stücken den Namen gab: Mit O’dampft is, der Dampfnudel-Polka und der Bauzerl-Polka riecht man Teig, Zimt und Zucker und sieht die Hausfrau traditionell werkeln, und mit dem Bettstadl-Boarischen, dem Zifferbladl-Walzer, Tabakreiber, Wollknäuerl und dem Grifflspitzer ist die Wohnung einmal rundherum „auskomponiert“.
„Griabige“ Ausdrücke, wenn auch mit ganz persönlichem Hintergrund, hat Hans seinen Stücken mit dem Strumpfkini-Boarischen (Schimpfwort für Lausbub) und dem Woigerer (ein Gwamperter, der „daherwoiglt“) gegeben. Der Schewerl-Boarische meint das Zittergras, die Bärndatz-Polka den Wiesen-Bärenklau.
An Stücken, die das Tanzen und das gemütliche Beisammensein zelebrieren, lassen sich Oana zum Tanzen – a Polka is’ und Oana zum Tanzen – a Boarischer is’, A Walzerl für uns alle, die Polka ausanand, Geburtstagswalzer, Sitz di her do und der Bierdümpfe-Boarische aufzählen. Und mit dem Walzerfragment Wann da Wind über d’ Schneid herkimmt setzen wir uns wieder heimatverträumt zurück auf die Hausbank.